Learning by Pitching – oder wie ich zur Schleusenkönigin wurde

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Was macht man, wenn man ein wunderschönes, hochseetaugliches Segelboot besitzt – aber noch nicht so genau weiß, wie man damit durch eine Schleuse kommt, bei Gegenstrom anlegt oder sich elegant zwischen Containerriesen im Verkehrstrennungsgebiet durchfädelt?

Richtig. Man engagiert sich einen Profi. In unserem Fall: Skipper Mathias Rüggeberg –  Erfahrener Seebär mit Hang zum Yoga, Geduld und dem Talent, mich mit einem Puls von 200 wieder aus dem Adrenalin zu holen.

Ziel der Mission:  „Segeln für Fortgeschrittene mit akuter Adria-Vergangenheit“. Auf dem Stundenplan: Tidenhübe, Strömungsnavigation, Hafenmanöver, Schleusenakrobatik und die große Kunst des Passagenplanens und natürlich segeln.

Leinen los, Grevelinger-Meer adé:

Mit einem wehmütigen „Servus“ an Bruinisse und einem hoffnungsvollen Blick auf unseren Tiefenmesser verlassen wir das ruhige Binnenidyll. Boomer soll nun endlich das wahre Leben eines Segelbootes kennen lernen. Vor uns: Schleusen, Seezeichen und ein ganz neuer Kosmos.

Meine erste Schleuse – sagen wir’s so: Die Panik war da, die Schleuse auch. Dank Mathias und einer stattlichen Portion Adrenalin ging alles gut. Boomer ist ganz geblieben. Ich auch.

Der Kampf um’s Steuer:

Christoph und ich: friedlich verheiratet, aber wehe, es geht um das Steuerrad. Wer fährt das nächste Manöver? Wer übt das Rückwärtseinparken mit Radeffekt? Wer darf das Bugstrahlruder streicheln? Ein erbitterter, aber liebevoller Zweikampf.

Spoiler: Christoph hat 30 Jahre Vorsprung – ich punkte mit unerschütterlichem Ehrgeiz (und einem wachsenden Vertrauen in Boomer).

Von der heilen Welt nach Mordor:

Letzte Schleuse in Vlissingen. Danach – bumm! – mitten rein in die Nordsee und das Epizentrum der Seeschifffahrt. Frachter links, Tanker rechts, der Plotter piepst nervös, mein Puls dito.

Aber hey: Boomer läuft. Und wie! Er will gefallen und zeigt uns was er drauf hat. Endlich kann er das tun, wofür er gebaut wurde: segeln, wir sind entzückt! Mit Raumschotwind in der Genua läuft unsere Yacht geschmeidig und rund durch die hohen Wellen und das in flottem Tempo. Wir stimmen unsere Lobeshymnen auf das Mittelcockpit an. Nie mehr was anderes: bei Böen bis 30 Knoten sitzen wir safe und zufrieden in der Schiffsmitte.

Englischer Kanal – Die Nacht der 1000 Frachter:

Navigieren, ausweichen, rechnen, schlafen – ach nein, das war ja gestrichen oder zumindest ziemlich reduziert. Dank Radar, AIS und Mathias´ Adlerblick meistern wir die Nacht über den englischen Kanal. Müde und zufrieden kommen wir an der englischen Küste an, setzen die englische Flagge und die gelbe Einklarierungsflagge – Brexit sei dank!

Solent – Das Mekka mit Strom:

Tidenrechnungen, Strömungsdiamanten, Reeds Almanac und Gezeitenzauber – jeden Tag ein neues Kapitel. Wir lernen. Schnell. Mühsam. Manchmal fluchend.

Anlegen mit Strom in Cowes? Eine Mischung aus Eislaufen und Curling. In Hamble mit viel Strom und Wind, die abwechslungsweise an Boomer herumzerren bleibe ich bei meinem Anlegemanöver doch fast am Heck der „Jolly Jumper“ hängen – ups – dank einem beherzten Eingrifen von Mathias wurde die „Jolly Jumper“ gerettet. Sie hätte einen Heck-an-Heck mit unserer massiven Hallberg-Rassy bestimmt nicht so leicht weg gesteckt. 

Finale furioso – die Kanalinseln:

Guernsey, Alderney – ein Traum in Strömung.  Wir machen unsere ersten Erfahrungen mit dem Strom gegen uns. Zu spät losgelegt, wegen Welle zu langsam unterwegs und plötzlich hast du mit 8 Knoten Fahrt durchs Wasser noch 1 Knoten Speed over Ground. Gott sei Dank hat Boomer einen starken Motor, der nun endlich zeigen kann, was er drauf hat.

Und dann: Frankreich. Cherbourg. Wind gegen Strom. Wellen wie Zähne – und Boomer grinst nur müde. Ich auch.

Am Ende steigen wir von Board – leicht zerzaust, aber mit einem inneren Orden am Revers.

Fazit:

Mathias hat uns zwei Wochen lang die harte Schule des Tidensegelns nähergebracht – mit viel Geduld, Witz und Fachwissen. Und siehe da: Er traut uns zu, allein weiterzusegeln.

Danke, Mathias – wir hatten eine intensive gemeinsame Zeit – und Boomer? Du bist offiziell nicht mehr nur ein Boot. Du bist jetzt unser Zuhause auf Wellen.

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